architectural tuesday | Prof. Kazu Blumfeld Hanada | Nachbericht

SCHWELLE DER LEIBLICHKEIT

Im Vortrag „Schwelle der Leiblichkeit”, den Prof. Kazu Blumfeld Hanada im Rahmen der Architectural Tuesday-Reihe zum Thema „Atmosphären des Raumes” hielt, stellte er eine offene Interpretation der Leiblichkeit des Raums dar, die über die formale, „physische” Architektur hinausgeht. Dazu nutzte er Projektbeispiel, die von Produktdesign über Kunst und Aussstellungsarchitektur bis hin zu städtebaulichen Formaten reichten.

Die Villa, das Haus und Invisible Lines 

Zu Beginn des Vortrags thematisierte Blumfeld Hanada eine Ikone der japanischen Architektur; die zwischen 1620 und 1650 errichtete kaiserliche Villa Katsura nahe Kyoto. Ihr Grundriss setzt sich aus verschiedenen Modulen zusammen, die auf den traditionellen Maßen der japanischen Tatami-Matten basieren. Beinahe vollständig frei von festen Wänden wird die Villa durch transluzente Schiebetüren unterteilt und ermöglicht auf diese Weise weite Sichtachsen durch das Gebäude und in den Garten. Dieses Prinzip ist vergleichbar mit einer Methodik, die Mies van der Rohe noch Jahrhunderte später in seinen Projekten anwandte. Ähnlich wie die transparente, modulare Bauweise der Villa Katsura lässt sich das deutlich massivere, jedoch niemals realisierte Backsteinhaus von Mies van der Rohe durch die fragmentierten Wände mit dem Außenraum verbinden. Sichtachsen, die wie „unsichtbare Linien” zwischen den Wänden des Backsteinhauses gezogen werden, bestimmen den Grundriss, die Lage und Länge der Wände. Folglich diktiert das im eigentlichen Sinne nicht Greifbare die Gestalt und Atmosphäre des greifbaren, physischen Raumes. Diese Methode der „unsichtbaren Linien” lässt sich nicht nur auf das Backsteinhaus beziehen, sondern ist auch in anderen Projekten von Mies van der Rohe zu finden, wie zum Beispiel dem Haus Esters und dem Haus Lange (1930] oder dem Barcelona Pavillon (1929). 

Bussotti, Cage und das Atelier for a musician

Ausgehend von dieser Methodik und in Anlehnung an die Partituren „Siciliano” von Sylvano Bussotti und „Imaginary Landscape No. 5” von John Cage entwarf Blumfeld Hanada das Atelier for a musician nahe Tokio.Wie die Komponisten in ihren Stücken durch nicht komponierte Teile – durch Geräusche der Umwelt – ergänzt wurden, oder Mies van der Rohe durch die fragmentierten Wände des Backsteinhauses eine besondere Beziehung zwischen dem Innen- und Außenraum schuf, wollte Blumfeld Hanada untersuchen, wie sich die Umgebung und die Landschaft nicht nur durch die gebaute Substanz, sondern vor allem durch das Ungebaute in das Gebäude integrieren lässt. Dies gelang ihm, indem sich im Erdgeschoss drei trichterförmige Räume der Landschaft und in die Höhe öffnen, während sich im Obergeschoss eine Terrasse und ein weiterer Raum befinden. Insgesamt vier Treppen im Innen- und Außenraum sowie die großen verglasten Öffnungen mit Blick auf den Garten schaffen immer wieder neue Beziehungen zwischen dem Gebäudeinneren und der umgebenden Landschaft und ermöglichen verschiedene Perspektiven auf und in die Natur.

Der Krieg, die Medien und Differential Fields

Ein anderes Format war Blumfeld Hanadas Ausstellung Differential Fields in Oslo, Norwegen. Vor dem Hintergrund der Terroranschläge am 11. September 2001 und dem damals noch anhaltenden Irakkrieg wollte Blumfeld Hanada die Besucher der Ausstellung mit der Fragestellung konfrontieren, wie sich Raum und Territorium innerhalb dieses Krieges definierten. Hierfür wurde der Ausstellungsraum durch drei transparente Flächen unterteilt. Mithilfe eines Beamers wurden auf die erste Transparentfläche Textausschnitte verschiedener Philosophen und Kulturkritiker projiziert, die sich zu den Anschlägen des 11. Septembers äußerten. Auf die zweite Transparentfläche wurde derselbe Text geworfen, dieses Mal allerdings gespickt mit Nachrichten-Bildern von Raketenzielen der NATO. Die dritte Fläche zeigte Ausschnitte des Nachrichtensenders CNN aus der Zeit, kurz bevor der Irakkrieg begann. Betrat nun ein Besucher oder eine Besucherin den Ausstellungsraum, wurden sie von einer Überwachungskamera aufgenommen. Zeitlich verzögert wurde ihr Bild zusammen mit einem Fadenkreuz, das ihren Bewegungen folgte, ebenfalls auf die Transparenflächen geworfen. Ziel der Installation war es, aufzuzeigen, dass der Krieg auf verschiedenen Ebenen ausgetragen wurde: vom Kampffeld bis hin zu den Massenmedien, in denen verschiedene Meinungen über Satelliten- und Raketenbilder propagiert wurden. Der Kampf herrschte weniger über territorialen als mehr über ideellen Gewinnen und Verlusten. In gewisser Weise verschwamm auch hier die „Schwelle der Leiblichkeit” und wurde von einem traditionellen Kampf auf dem Schlachtfeld zu einem Ideologiekampf in den Massenmedien.

Licht, OLEDs und das L-Grid

Ein weiteres Projekt Blumfeld Hanadas befasste sich mit dem Produktdesign von sehr dünnen organischen Leuchtdioden (kurz OLEDs) der Firma Kaneka. In erster Linie war es das Ziel, Anwendungsmöglichkeiten zu finden und diese als Modell zu entwickeln. Nach der Vorlage von Larry Bells „Bette and the Giant Jewfish” sowie Victor Vasarelys Werken entwarf Blumfeld Hanada das L-Grid, eine Art verspiegelte „Schachbrett-Installation” mit innen liegenden OLED-Panelen, die mit der Wahrnehmung, mit Rationalität und Illusion spielt und somit im kleineren Maßstab eine weitere Sichtweise auf die „Schwelle der Leiblichkeit” wirft.

Berlin, Tempelhof und die LZB

Als Wettbewerbsbeitrag im städtebaulichen Maßstab für die neue Landes- und Zentralbibliothek (LZB) Tempelhof Berlin entwarf Blumfeld Hanada einen sehr flachen Bau am Rande des Tempelhofer Feldes, ein fast zwei Kilometer weites, unbebautes und nahezu baumloses Flachland. Die umliegenden Gebäude wurden nach einem sehr rationalen Raster mit unterschiedlichen Höhenniveaus angeordnet, sodass sich der nur zweigeschossige Baukörper der LZB durch seine Flachheit umso mehr hervorheben würde. Aufgrund der unmittelbaren Nähe zum Tempelhofer Bahnhof und der Lage am Eingang zum Tempelhofer Feld sollte das Erdgeschoss der LZB als ein großes Foyer dienen, während das Obergeschoss als eigentliche   Ausstellungsfäche der Bücher genutzt würde. Lichthöfe hätten auch ohne den Gebrauch von klassischen Wänden verschiedene Bereiche definiert.Leider wurde infolge einer Volksabstimmung keines der eingereichten Projekte realisiert.

Gestern, heute und die Schwelle der Leiblichkeit

Das Sanierungsprojekt eines alten Gebäudes in Tiergarten, Berlin Mitte, aus dem Baujahr 1886, spiegelt die „Schwelle der Leiblichkeit” auf eine sehr deutliche Weise wider. Zwei große Räume bilden das Herz der Wohnung. Obwohl dort weitgehend auf raumteilende Wände verzichtet wurde, sind sie doch mithilfe verschiedener Höhenniveaus, Nischen und (Einbau-) Möbel in einzelne, klar definierte Funktionen unterteilt und lassen somit eine Vielzahl von parallel ablaufenden Aktivitäten zu.

Wie Mies van der Rohes „unsichtbaren Linien”, wie der Schritt in den digitalen Raum über die sozialen Medien oder wie das Spiel mit Rationalität und Illusion machte Blumfeld Hanada deutlich, dass Atmosphäre nicht nur durch den gebauten, physischen Raum, sondern auch durch das Ungebaute, das Nichtvorhandene geschaffen und geprägt wird.

Text: Kollektiv für AT-Nachberichte