architectural tuesday | Alain Vimercati | Nachbericht

Im zweiten Vortrag der „architectural tuesday“-Reihe „Wohnen wollen alle – Partizipative Stadt- und Architekturkonzepte“ stellt der schweizer Architekt Alain Vimercati seine Konzepte und Projekte für und mit ärmeren Bevölkerungsgruppen in Marginalsiedlungen Boliviens vor.

Alain Vimercati arbeitet für die Stiftung Pro-Habitat als Unterstützer in Cochabamba (Bolivien). An der ETH Universität in Zürich beendete er 2010 als Diplom Architekt sein Studium. Nach dreijähriger Berufsausübung in der Schweiz reiste er mit Unterstützung der Schweizer NGO Comundo nach Bolivien und engagiert sich seit dem für soziale Wohnräume und nachhaltige Stadtentwicklung, insbesondere in den Randgebieten von Cochabamba. Ziel seiner Arbeit ist die Schaffung von sozialem Wohnraum ohne kommerzielle Interessen – aber mit der Einbindung der Bevölkerung.

Der national mehrfach ausgezeichnete Architekt berichtet im Vortrag über die besondere Herausforderung seiner Arbeit anhand von Projektbeispielen und seiner Praxiserfahrung vor Ort. Räumliche und soziale Segregation, Korruption und Stadtplanung geleitet durch den freien Markt bedingen ein schwieriges Planungsumfeld für Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit.

Zu Beginn stellt er das Land Bolivien mit seinen rund 10 Mio. Einwohnern in Hinblick auf die aktuelle Städteplanung vor. Der Anteil der städtischen Bevölkerung beträgt 67 %, das Bevölkerungswachstum in den Städten liegt bei 2,4 % im Jahr. Die zeitgenössische Wohnproduktion in Bolivien ist geprägt ist von Mehrfamilienhäusern und Wohnblöcken ohne urbane und architektonische Qualität. Moderne Entwürfe zeigen angeblich nachhaltige Hochhäuser, die Wohnungen und Büros kombinieren. Daneben gibt es geschlossene Einfamilienhaussiedlungen für die gutsituierte Bevölkerungsschicht.

Alain Vimercati schildert die Wohnungsnot und belegt dies anhand der bestehenden Wohneinheiten von ca. 2,7 Mio. bei einem quantitativen Mangel von 700.000 Wohneinheiten und einem qualitativen Mangel von 1,2 Mio. Wohneinheiten. 70 % der Wohnproduktion wird im Selbsthilfebau erstellt.

Aufgrund neoliberaler Politik seit Ende der 1980er Jahre liegt die Stadtplanung in den Händen des freien Marktes. Es herrscht starke interne Migration vom Land in die Stadt. Der Einfluss von Bauspekulanten und ein deregulierter Landmarkt führen zu Quadratmeterpreisen bis zu 2.000 USD / qm im Zentrum der Stadt Cochabamba. Dies ist für die ärmere Bevölkerungsschicht unerschwinglich – sie hat faktisch keinen Zugang zum formellen Markt. Es entsteht eine räumliche und soziale Segregation und diffuse Korruptionspraktiken auf allen Ebenen.

Alain Vimercati geht auch auf die informelle Produktion der Stadt ein. Es findet keine Unterstützung durch lokale und nationale Behörden statt. Die von ihm genannten Probleme, wie z.B. die fehlende Beteiligung der Einwohner an der Stadtplanung einhergehend mit einem Mangel an Dienstleistungen, Infrastruktur, öffentlichen Plätzen und Grünflächen, führt zur Zersiedlung der Städte. Weitere Probleme sind Verschmutzung, teure Anpassungsmaßnahmen, rechtliche und technische Probleme bei der Landregularisierung oder Selbsthilfebau ohne technische Hilfe.

Die Stadt Cochabamba ist in zwei Zonen geteilt. Im nördlichen Stadtteil lebt die reichere Bevölkerung, in dem von suburbaner Zersiedlung geprägten südlichen Teil leben die Ärmeren unter einfachsten Bedingungen.

Kompakte Wohnblöcke, „Whipala“, El Alto

Der Staat baut zwar Wohnungen für die ärmere Bevölkerung, jedoch sind diese überwiegend kleinsten Einfamilienhäuser ohne Außenflächen und öffentliche Räume in keinster Weise adäquat und werden somit von der Bevölkerung auch nicht angenommen. Es handelt sich überwiegend um kleinste Einfamilienhäuser ohne Außenflächen und öffentliche Räume. In einem entfernteren Stadtteil hat man ohne städtebaulicher Einfügung Hochhäuser in einem zweigeschossigen Wohngebiet gebaut. Die Infrastruktur ist mangelhaft oder fehlt komplett und es gibt keinerlei Dienstleistungen.

Hier zeigt sich der quantitative Fokus des staatlichen Wohnungsbaus. Die ärmere Bevölkerung ist von den meisten Bauprogrammen ausgeschlossen, denn sie berücksichtigen keine städtebaulichen, architektonischen und konstruktiven Qualitäten. Aufgrund von Korruption auferlegten Typologien und ungeeigneten Standorten lehnen die bedürftigen Einwohner diese Angebote ab.

Als Beispiel eines Kollektivprojekts stellt Alain Vimercati die von der Frauengruppe Maria Auxiliadora entwickelte Wohnsiedlung in der südlichen Zone von Cochabamba vor.

Entwurf Wohnhaus-Grundrisse

Allgemeine Herausforderungen solcher Projekte ist die Schaffung von bezahlbarem, angemessenem Wohnraum für verschiedene Einkommensgruppen der Gesellschaft.
Weiterhin zeigt er verschiedene Beispiele für Partizipationsprozesse am Beispiel Um-, An- und Neubau von 153 Häusern in fünf suburbanen Quartiersviertel der Stadt Cochabamba. Mithilfe staatlicher Unterstützung von Baumaterialien konnten die Familien unter Eigenleistung adäquate Wohnräume schaffen. Ziel war die Steigerung der Lebensqualität der dort ansässigen Familien durch Wohnungsverbesserung. Das gesamte Projekt wurde innerhalb von 16 Monaten bis Dezember 2015 ausgeführt.

Workshop „Selbsthilfebau mit technischer Betreuung“

Vor Baubeginn wurde das Vorhaben in mehreren Treffen mit den Anwohnern erläutert und besprochen. Als Grundlage für die Hausentwürfe berücksichtigte Alain Vimercati mit zwei weiteren Architekten den jeweiligen staatlichen Zuschuss in Höhe von 5000 USD. Die Entwürfe der Häuser sind modular, flexibel und progressiv gestaltet. Alle Varianten wurden anhand von Modellen in Workshops für die lokale Bevölkerung vorgestellt. Anhand dieser Modelle konnten die jeweiligen städtebaulichen Vorschriften erläutert werden. Durch die Erklärungen am Modell konnten auch Bewohner, die nicht lesen und schreiben können, die unterschiedlichen Planungsaspekte verstehen. Workshops für den Selbsthilfebau unterstützen den Prozess.

Fassadengestaltung

Durch individuelle Farbgestaltung und verschiedenste Dekorationen haben die Einwohner die Wohnfassaden zu einzigartigen Rückzugsorten gemacht. Das partizipative Verfahren schaffte eine soziale Eingliederung der Bewohner unter Berücksichtigung der Bau- und Verwaltungsprozesse. Einschränkende Kriterien waren die quantitativen Ziele der staatlichen Baubehörde, also kein Zugriff auf öffentliche Plätze und Grünflächen. Daher sind solche Projekte eher im ländlichen Raum möglich.

Ein Nebeneffekt des partizipativen Bauens ist ein neu entstandener Gemeinschaftssinn und ein höheres Sicherheitsgefühl unter den Anwohnern.

Das Projekt „Construyendo Ciudad“ („Die Stadt bauen“) mit dem Ziel einer mikrostädtischen Zentralität entstand 2017 innerhalb der südlichen Zone der Stadt Cochabamba im Quartier Lomas del Pagador. Nach Abschluss der Projektentwicklung wurde „Construyendo Ciudad“ mit dem ersten Preis auf der XIII. Bolivianischen Architekturbiennale ausgezeichnet. Angestrebt war eine bezahlbare Alternative des Erwerbs von Wohnungen und Grundstücken mit dem Ziel qualitative öffentliche Flächen und Grünflächen entstehen zu lassen. Es sollte eine gemischte Nutzung inklusive Wohnen unter Verwendung von ökologischen Baumaterialien entstehen. Der Architekt gibt einen Überblick über die angefallenen Herausforderungen bei der Planung für dieses Quartier. Aus der Grundlagenermittlung ging hervor, dass über der Hälfte der bestehenden Grundstücke und Flächen bei den Behörden nicht registriert sind.

Grundlagenermittlung
Axonometrie „Construyendo Ciudad“ („Die Stadt bauen“)

Leider scheiterte die Projektfinanzierung in 2018, dennoch stellt Vimercati das  Modell für eine Stadtregulierung mit partizipativem Konzept vor.

Die Idee ist, in einem bestehen Wohnviertel ein den Vorschriften entsprechendes Projekt zu planen. Hierfür entwarf man bis zu 4-geschossige Module, die Wohnungen von 30 qm bis zu 200 qm vorsehen. Die Baumodule sind beliebig kombinierbar, sodass Wohnungen für verschiedenste Nutzer mit unterschiedlichen Bedürfnissen entstehen. Im EG befinden sich multifunktionale Räume mit zentralen Grünflächen. Ein Mittelstreifen bietet den Bewohnern eine sichere Aufenthaltsmöglichkeit und erhöht die Wohnqualität. Auch ökologische Aspekte wie z.B. urban gardening fließen ein. Gebaut wird mit Backstein- und Lehmziegeln. Finanziert wird mit staatlichem Zuschuss und Selbsthilfebau.

Trotz aller Regularien können die Module an der Fassade individuell gestaltet werden. Dies wird anhand einer Fotomontage visualisiert.

Modul-Grundrisse
Fassadenkonzept

Neben den exemplarisch beschriebenen Projekten werden noch zwei partizipative Projekte vorgestellt. Vorgestellt wird das Projekt NUK zur nachhaltigen, urbanen Konsolidierung mit dem Ziel Mietsicherheit für stadtnahe Stadtviertel zu schaffen. Das letzte Projekt mit dem Programm der urbanen Zentralitäten beschreibt die Vision einer polyzentrischen, kompakten Stadt. Hier ist die Grundlage eine langfristige städtebauliche und territoriale Planung in der Gemeinde La Paz. Auch in diesem Projekt ist eine partizipative Stadtplanung der zentrale Grundgedanke zur Schaffung integraler Projekte in strategischen Zonen.

Alain Vimercati beschreibt Partizipation als Mittel zur Problemlösung bei der Stadtentwicklung mit verschiedenen Bevölkerungsschichten. Wichtig ist das Zusammenspiel aller Akteure und eine gleichmäßige Verteilung von Aufgaben und Verantwortung.

Text: Aitek Emadi

Bild: Bildquellen aus Vortrag