architectural tuesday | Freek Persyn | Nachbericht

Ein Nachbericht von Kim Nguyen

Das Anthropozän, die Epoche geprägt von der Auswirkung von Industrialisierung und Kapitalismus auf unseren Planeten, stellt unsere Gesellschaft vor bedeutende Herausforderungen. Im Herzen von Brüssel hat sich das Architekturbüro 51N4E zum Ziel gesetzt, diese Herausforderungen durch ihren innovativen Ansatz zur adaptiven Wiederverwendung anzugehen. Mit ihrem Büro in Brüssel, dessen Koordinaten die Position der Stadt auf der Weltkarte repräsentieren, verkörpert 51N4E eine einzigartige Perspektive auf Architektur und städtische Transformation.

Freek Persyn, Mitbegründer des Architekturbüros, teilte seine Erkenntnisse aus einem laufenden Projekt im Rahmen des architectural tuesdays mit Studierenden, Lehrenden, Architekt*innen und weiteren Interessierten.

51N4E, bestehend aus einem vielfältigen Team von circa 70 Fachleuten, legt Wert auf Zusammenarbeit und arbeitet auf verschiedenen Maßstabsebenen und in unterschiedlichen Kontexten, immer im Fokus der adaptiven Wiederverwendung. Oft konzentrieren sie sich auf Erbe und Kontext innerhalb von Brüssel, einer Stadt, die Teil der „blue banana“ ist: der produktivsten und wohlhabendsten Region in Mitteleuropa. Statt sich ausschließlich auf einzelne Objekte zu konzentrieren, betonen die Architekt*innen bei 51N4E die Beziehungen zwischen ihnen und schaffen so Umgebungen, die sich harmonisch in ihre Umgebung einfügen.

Die Sanierung des Handelszentrums, die voraussichtlich 2024 abgeschlossen sein wird, verdeutlicht die Herausforderungen im Umgang mit Erbe und Größenordnung. Das Gebäude befindet sich im Norden von Brüssel, einem Viertel, das durch stagnierende Stadtentwicklung geprägt ist. In der Nachkriegszeit wurden hier Arbeiterwohnviertel abgerissen, um Platz für die Bürotürme zu schaffen.

Bild: 51N4E

Als Reaktion auf den nun geplanten Abriss haben Aktivist*innen und Bewohner*innen Gegenprojekte vorgeschlagen und damit Architekturbüros wie 51N4E neue Perspektiven und Ideen eröffnet. Die Entwickler und Investoren des Handelszentrums haben 2017 einen Wettbewerb für die Erneuerung initiiert, der zur Umsetzung einer Strategie temporärer Nutzung führte. In einem zweiwöchigen Workshop vor Ort mit dem Namen „Hybrid Business Districts“ fanden öffentliche Vorträge und Diskussionen statt, an denen Studierende und Investoren teilnahmen. Das Experiment führte zu eineinhalb Jahren lebendiger temporärer Nutzung, bei der das Gebäude zu einem öffentlichen Veranstaltungsort wurde und Projekte wie urban gardening, eine Ausstellung der Architekturbiennale Rotterdam und ein dreitägiges Jugendfestival stattfanden.

Bild: 51N4E

Gegen Ende der temporären Nutzung schlug 51N4E vor, das Handelszentrum durch Schaffung einer gemischt genutzten Einrichtung umzunutzen. Ihr Design zielte darauf ab, die vorhandenen Türme horizontal zu verbinden, die Anzahl der Stockwerke zu reduzieren und die Flexibilität zu erhöhen. Balkone wurden hinzugefügt, ohne die bestehenden Stockwerke zu verändern, während eine große öffentliche Dachterrasse geplant war. Das Konzept der Kreislaufwirtschaft leitete ihre Entscheidungen und führte zu einem ausgewogenen Verhältnis von Abriss und Materialrecycling.

Bild: 51N4E

Die Betonstruktur wurde wiederverwendet, wobei nur die Hauptstruktur erneuert wurde. Dachziegel fanden Verwendung für die Balkone, was auf eine gewissenhafte Herangehensweise an den Transport und die Lagerung von Ressourcen hinweist. Die Integration von Pflanzen und Vegetation sollte die Luftqualität verbessern und das Gebäude in einen für die Nachbarschaft pflegenden Raum verwandeln. 51N4E hat ein neues Konzept für Büroflächen entwickelt, indem sie dem Handelszentrum eine zusätzliche Nutzung als Wohnraum hinzufügten. Dadurch wurde das Gebäude zu einem gemeinschaftlichen Raum, der zugleich als Verbindung zur Stadt fungiert.

Der Weg der adaptiven Wiederverwendung bot 51N4E wichtige Lehren und dient als potenziellen Leitfaden für zukünftige Projekte:

Lebenszyklusanalyse: Eine umfassende Bewertung ergab, dass eine Renovierung die Auswirkungen auf die globale Erwärmung um 45% im Vergleich zum Neubau von Betonstrukturen reduziert. Recycling, Wiederverwendung und Neuausrichtung von Materialien sollten Priorität haben.

Unterschiedliche Perspektiven: Die Einbeziehung verschiedener Wissensquellen und Ideen ist entscheidend. Sie ermöglicht fundierte Entscheidungsfindung und die Entdeckung unerwarteter Verbindungen und Übereinstimmungen.

Von Projekten zu Programmen: Architektur sollte darauf abzielen, langfristigen Mehrwert durch die Entwicklung von Umgebungen zu schaffen, anstatt sich ausschließlich auf Einzelprojekte zu konzentrieren.

Beteiligung und Veränderung: Architekten sollten sich aktiv am Transformationsprozess beteiligen, um auf sich wandelnde Bedürfnisse zu reagieren und unausweichliche Veränderungen anzunehmen.

Bild: Larissa Schaffrath
Bild: Larissa Schaffrath

Die Arbeit von 51N4E in Brüssel, insbesondere ihr Ansatz zur adaptiven Wiederverwendung im vorgestellten Projekt, bietet wertvolle Einblicke in nachhaltige und innovative städtische Transformationen. Durch die Neugestaltung des Potenzials bestehender Strukturen zeigen sie, dass Abriss nicht die einzige Option ist. Ihr Engagement für Kreislaufwirtschaft, Bürgerbeteiligung und langfristige Wertschöpfung dient als Inspiration für Architekten und Stadtplaner weltweit. Um den Herausforderungen des Anthropozäns etwas entgegenzustellen, können uns die Erkenntnisse von 51N4E in eine nachhaltigere und inklusivere Zukunft leiten.

Text: Kim Nguyen
Fotos: 51N4E | Larissa Schaffrath