Prof.in Dr. Anna Steigemann |
05.11.2024

NACHBERICHT

Soziale Netzwerke als solidarische urbane Infrastruktur: Gelebte Gemeinschaft?

Die Vortragsreihe „architectural Tuesday – Kritische Architektur, für mehr Verantwortung in der Planungspraxis“, begann am 05. November 2024 mit einem Vortrag von Professorin Dr. Anna Steigemann.

Als Soziologin und Expertin für Stadt- und Raumforschung verbindet Anna Steigemann verschiedene Disziplinen wie Urbanistik, Architektur und Anthropologie. Seit 2016 erforscht sie an der Habitat Unit der TU Berlin als „Senior Researcher“ Themen wie Migration, Diversität in städtischen Räumen und nachhaltige Stadtentwicklung mit dem Fokus auf Bottom-up-Ansätze und soziale Infrastrukturen. An der Universität in Regensburg ist sie zudem seit 2020 Professorin für Soziologische Dimensionen des Raumes.

Aktuell forscht sie, parallel zu ihren Lehrtätigkeiten, an den beiden Projekten „Transforming Solidarities“ und „Queer-Spaces“.

Das Projekt „Transforming Solidarities“ untersucht Solidarität im Bereich Wohnen und außerdem Themen wie Gesundheit und Arbeit. Der Begriff „Solidarität“ wird dabei kritisch beleuchtet und oft als Nebeneffekt sozialer Kämpfe betrachtet. Das Projekt hat das Ziel, Solidarität und die relevanten Netzwerke und Akteur*innen in Städten zu identifizieren. Zu den Methoden gehören räumliche Interventionen (Kunstaktion im öffentl. Raum) wie zum Beispiel der „Kiosk of Solidarity“, Sozialraumbeobachtungen und Interviews.

Das Forschungsprojekt „Queer Spaces“, widmet sich Orten, die für die LGBTQ+-Community einen bedeutenden Raum bilden. In diesem Kontext wird erforscht, wie Städte als sichere Orte für queere Menschen gestaltet werden können.

In Anna Steigemann´s Vortrag, am 05.11.2024 mit dem Titel „Gelebte Gemeinschaft: Soziale Netzwerke als solidarische urbane Infrastruktur?“ stellte sie einige Thesen aus der aktuellen sozialwissenschaftlichen Stadtforschung vor. Sie erläuterte ihren eigenen Forschungsansatz in diesem Feld und präsentierte daraus abgeleitete Erkenntnisse.

Sie begann mit der Erkenntnis, dass Gemeinschaft und Solidarität in städtischen Infrastrukturen tragende Rollen spielen. Dabei stellte sie fest, dass die in Städten gegebene räumliche Nähe, nicht automatisch zu Gemeinschaft und Solidarität führt. Vielmehr bedürfe es zusätzlicher gemeinschaftsfördernder Faktoren wie gemeinsamer Interessen oder ähnlicher Lebensstile.

Zur Bestätigung ihrer These, nannte sie ein funktionierendes Beispiel aus der Sonnenallee in Berlin. Dort haben libanesische Geschäftsleute sogenannte „Arrival Infrastructures“ aufgebaut. Mit dem gemeinsamen Interesse das Zusammenleben geflüchteter Menschen und Berliner*innen positiv zu beeinflussen, schafften sie Gemeinschaft und damit auch eine positive Umgestaltung städtischer Räume.

In diesen solidarischen Räumen, so Anna Steigemann, können Menschen Isolation überwinden und neue Formen des Zusammenlebens entwickeln. Nach der Erläuterung dieses positiven Beispiels, kam Anna Steigemann zur Annahme, dass diese Räume anfällig für die Einflussnahme staatlicher Akteur*innen sind.

Dies bietet wiederrum die Möglichkeit, dass gemeinschaftliche Initiativen gegen die staatlichen Akteur*innen entstehen.

Zusammengefasst erläuterte sie in ihrem Vortrag folgende Forschungsergebnisse:

  • Solidarische Räume wirken gegen Isolation und schaffen Möglichkeiten der Zusammenkunft.
  • Räumliche Nähe reicht zur Entstehung von Gemeinschaft nicht aus.
  • Sie sind anfällig für Vereinnahmung durch staatlichen Akteur*innen.
  • Sie dienen als Anstoß- und Netzwerkorte, die Austausch und gemeinsames Handeln ermöglichen.
  • Durch spezifische Raumgestaltung und die damit verbundenen sozialen Praktiken tragen diese Räume zur Diversität bei.

Wenn durch diese Prozesse Solidarität und Gemeinschaft entstehen, hat das ebenfalls gegenseitige Fürsorge zur Folge. Anna Steigemann betont also, dass durch gemeinsames Arbeiten, Konkurrenzdenken überwunden werden kann.

Ein weiteres positives Ergebnis der Zusammenarbeit sei, dass Ressourcen besser genutzen werden können.

Die Gemeinschaft, die entsteht ist jedoch zeit- und ortsgebunden und beeinflusst die Art und Weise, wie Menschen in einer urbanen Umgebung miteinander in Beziehung treten.

Insgesamt verdeutlichte Anna Steigemann, dass urbane Gemeinschaft und solidarische Netzwerke wichtige soziale Infrastrukturen sind, die über bauliche Strukturen hinausgehen und das Potenzial haben, städtische Lebensräume zu transformieren.

In der anschließenden Diskussionsrunde erläuterte sie, dass das Architekturstudium darauf abzielen sollte, Räume umfassend zu verstehen. Die Soziologie und andere Disziplinen wie die Psychologie könnten hierbei wertvolle Methoden sein, um den Blick auf Räume und ihre soziale Nutzung zu schärfen.

Eine multiperspektivische Herangehensweise an Stadt und Raum sei entscheidend, um die Perspektiven und Bedürfnisse verschiedener Menschen zu erfassen und geeignete Räume zu gestalten. Dabei sei es weniger sinnvoll, spezifische Typologien für bestimmte soziale Gruppen zu entwickeln, wichtiger sei es, bezahlbaren Wohnraum für alle und flexibel nutzbare Räume anzubieten.

Anna Steigemann betonte außerdem, dass die räumliche Gestaltung großen Einfluss auf die Partizipationsmöglichkeiten von Menschen hat. Bereits im Rahmen von Forschungs- und Studienprojekten könne Partizipation durch praktische Ansätze gefördert werden. Konzepte wie „Reallabore oder „Urban Interventions“ seien Beispiele dafür, wie Forschung und Entwurf nicht nur am Computer stattfinden sollte, sondern auch durch direkte Auseinandersetzung mit dem Raum und der Community vor Ort.

Der Vortrag von Prof.in Dr. Anna Steigemann bot einen spannenden Einblick in die Rolle sozialer Netzwerke als Grundlage solidarsicher Stadtentwicklung und zeigt, wie interdisziplinäre Ansätze neue Perspektiven für die Gestaltung urbaner Räume eröffnen können.

Fotos

Luke Sorges